Freitag, 31. Dezember 2010

Keine Basis

Unverrückbar
Jeder Mensch hat bestimmte Vorstellungen und Ansichten, an die er nicht mehr rütteln möchte. Zweifel waren früher, heute jedoch können die Anderen soviel reden wie sie wollen. Recht habe ich trotzdem. So oder ähnlich geht es jedem schon mal. Das ist natürlich keine wissenschaftliche Haltung, gehört aber zum Mensch-sein dazu. Alles immer und jeden Tag zu relativieren und überdenken, überspannt die knappe Zeit, die uns gegeben ist.

Kunst kommt von Können

Eine dieser Prämissen, die ich hege und pflege, ist die Ansicht, dass ein paar hingeworfene Striche oder Farbkleckse keine Kunst sind. Die angeblich wichtigen Gedanken des Malers sind meist reines Geschwätz, um von der dilettantischen Umsetzung abzulenken. Wenn ein ähnliches Werk von jedem Hobbymaler stammen könnte, dann ist es keine Kunst. Auch wenn der Maler theoretisch größere Fähigkeiten als die Masse der Amateure besitzt, zählt dies nicht für die Bewertung des konkreten Werks.

Fallbeispiel
Wobei wir beim Thema wären. Picasso. Er war aus künstlerischer Sicht ein etwas frühreifer, talentierter akademischer Maler, dessen erste Arbeiten den Werken unzähliger anderer Schüler der großen Akademien des 19. Jahrhunderts entsprachen. Nichts, wofür man in vergötterungswürdiger Anbetung verfallen sollte, aber auch nichts, um ihm sein Talent abzusprechen. Bekannt und als Genie gefeiert wurde er jedoch wegen seiner Fähigkeit, den neusten Trends seiner Zeit zu folgen und sie zu 'perfektionieren', wobei dieses Wort natürlich viel zu positiv ist. Denn vieles davon hat in meinen Augen nichts mit Kunst zu tun, weil ihnen alles dazu fehlt.

Genie, oder?
Darf man das wirklich so sehen, Picasso soll doch der Künstler schlechthin sein? Ich habe das den Fachleuten nie abgekauft. Aber vor kurzem bot sich die Gelegenheit, es doch nochmal genauer zu bedenken.

Überprüfung
Denn zeitgleich zu meinem Wien-Besuch fand in der Albertina eine Picasso-Ausstellung (Hinweis zum Link: dort waren früher viele Bilder der Ausstellung zu finden, jetzt nur noch drei) statt. Das war die Gelegenheit, dem angeblichen Kunstmessias des 20. Jahrhunderts über die Schulter zu schauen.
Picasso zieht die Massen an. Ich stehe bei klirrender Kälte vor dem Gebäude und komme, wie so viele andere, nicht rein. Überfüllt ist es an diesem Sonntag. Aber wir Harrenden wollen uns die Chance auf diese 'Meisterwerke' nicht entgehen lassen und warten und warten. Dann ist es soweit. Wir dürfen die heiligen Hallen betreten. Wie fast immer bei großen Ausstellung sind sie wunderbar eingerichtet und beleuchtet, und vorbereitet zum entspannten Kunstgenuss. Aufgrund der Zuschauermassen und dem hektischem Treiben kommt aber leider eher Bahnhofsstimmung auf. Aber was macht man nicht alles für die hohe Kunst...

Wo ist die Kunst?
Doch, wo war sie? Nichts, was Kunst ausmacht, war zu sehen. Ich schaue mir das erste Werk an, das zweite, das dritte. Nichts. Die Bilder werden bestimmt noch kommen, in die Gedanken und Arbeit eingeflossen sind. Entscheidungen wie geschickte Gesamtkomposition, Anzahl der Figuren, wo welcher Gegenstand platziert wird, schräg zu erblicken oder doch von vorne? Welche Haltung haben die Figuren, welche Gestik und Gesichtsausdruck? Welche Kleidung, welche Farbgebung und Beleuchtungsregie? Wie vermittle ich Stofflichkeit, Räumlichkeit und erzeuge Menschen aus Fleisch und Blut? Und so weiter und so fort.

30000 Mal keine Kunst
Doch nach meiner verzweifelten Suche musste ich feststellen: mit solchen Gedanken und Hindernissen bei der Umsetzung hat sich Picasso fast nie geplagt!
Die meisten der ausgestellten Werke wirken wie 5 Minuten Schnellschüsse auf 7. Klässler-Niveau. Davon hat Picasso wahrscheinlich 30000 ähnliche Werke im Jahr erzeugt. Austauschbar und ohne seine Unterschrift sind sie fast alle lächerlich. Wenn die Bilder deine Signatur hätten, würde niemand auch nur eine Minute in der Kälte dafür anstehen.

Helfende Hand?
Stopp! Ein letzter Anflug von Relativismus-Euphorie packte mich und ich schaute in die Gesichter der umstehenden Leute. Sehen sie etwas in den Bildern, was ich nicht sehe? Kennen sie den Weg zur Kunst und ich habe mich schon lange verlaufen? Fehlt mir die Vorstellungskraft, in den Bildern das Genie zu erblicken? Ich schaue mir die Dame links an, den Herrn dort, die Gruppe hinten. Aber nein, irgendwie wirken sie eher verzweifelt in ihrer Suche nach dem Genie in dieser Ausstellung. Manch einer wollte dies mit verschleierndem Geschwafel über die Bedeutung dieses und jenes Strichs vertuschen, aber so richtig gelang dies nicht.

Ende des Relativismus
Mir jedenfalls reichte es. Eines wusste ich genau. Es gibt keine Basis zwischen denjenigen, die in Picassos Werken große Kunst erkennen und mir. Warum sollte ich in einer Welt, in der wahre Kunst zum Greifen nah ist, mich mit solch nichts bietendem Müll aufhalten?

Wahre Männer
Raus aus dem Schuppen, rein ins Belvedere, um mich dort von der Welle älterer, kampfbereiter Männer, die aus Defreggers genialem Bild "Das letzte Aufgebot" marschieren, überwältigen zu lassen. Live wirkt es fantastisch, bei weitem besser als es das Vorschaubild des Belvedere vermuten lässt.

Franz von Defregger - Das letzte Aufgebot (1874)
Öl auf Leinwand (139 x 191 cm)