Donnerstag, 12. November 2009

Was ist Kunst? (Teil 2)

Zur Zeit lese ich wenig über die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Deshalb nochmal (Teil 1 findest du hier) etwas Grundsätzliches zu meinen Kunstansichten, die den heutzutage vorherrschenden Standardansichten vollständig widersprechen.

Was ist Kunst?

Das einzige Kriterium, ob etwas als Kunst betrachtet wird, ist das von dem Werk ausstrahlende Können.

Können ist aus meiner Sicht ein rein technischer Aspekt.

Wenn ein Werk in ähnlicher Qualität von einem Hobbymaler mit den gleichen Hilfsmitteln kopiert werden kann, dann ist es keine Kunst.

Adolf Hölzel - Anbetung (1912)
Öl auf Leinwand (85 × 67 cm)

Simpel, zu simpel für viele, aber dies ist in meinen Augen der einzig wahre Eichtest. Deshalb ist in der Regel Objektkunst oder abstrakte Kunst keine Kunst. Dekorativ oder gefällig vielleicht, aber keine Kunst. Solche Sachen haben nichts in einem Museum verloren und sind in der Regel schlicht und einfach nur dilettantischer Müll.

Kasimir Malevich - Supremus No. 58 (1916)

Als Beispiel seien zwei aktuelle Preisvergaben vorgestellt. Zum einen der Kasseler Kunstpreis 2009 (man könnte blind fast jeden anderen Kunstpreis in Deutschland wählen, aber Kassel ist aufgrund seiner documenta-Ausstellung, der Königin der Kunstausstellung ohne Kunst, eine verführerische Stadt für diese Zwecke) und zum anderen der ARC Nachwuchswettbewerb 2009. Dreimal darf geraten werden, wer etwas mit Kunst zu tun hat und wer nicht und wie der Stand der Kunst in den jeweiligen Ländern ist...

Was ist, wenn ich nicht weiß, wie das Werk entstanden ist?

Carl Friedrich Lessing - Heimkehrender Kreuzritter (1835)
Öl auf Leinwand (66 x 64 cm)

Nehmen wir mal an, es hängt in einem Museum eine ausdrucksstarke, kunstvolle Zeichnung, die sich offensichtlich von den Versuchen eines Laien unterscheidet. Es ist ein Kunstwerk, welches seinen Platz dort verdient.
  • Nun nehmen wir an, dass die Kopierer späterer Generationen Ergebnisse erzeugen, die Zeichnung und Gemälde nicht mehr von den Originalwerken unterscheiden lassen. Es wird nun bekannt, dass die Zeichnung im Museum eine Druckkopie ist und nicht, wie bisher vermutet, ein von Menschenhand geschaffenes Werk. Dann hat dieses Bild, welches vor kurzem noch als große Kunst angesehen wurde, seinen Wert verloren. Natürlich und trivial.
  • Ein anderer vereinfachter Fall. Das Original ist ein Meisterwerk, die im Museum hängende Zeichnung jedoch eine mit Projektion und simpler Durchzeichnung erstellte Kopie (was bei wirklicher hochwertigen Zeichnungen, da sie mehr als reine Konturen zu bieten haben, natürlich nicht möglich ist), dann mag das Ergebnis genauso schön wie das Vorbild sein, hat aber damit seinen Kunstwert verloren, da es mit dem nötigen Fleiß jeder durchpausen kann.
  • Oder folgendes: Ein Gemälde wird in bester Manier von einem Könner seines Fachs kopiert (so sagt man von Franz von Lenbach, dass seine Kopien für die Schackgalerie fast noch besser waren als die Originale. Da ich noch nie eines dieser Gemälde gesehen habe, kann ich es nicht beurteilen), so ist dies Kunst, auch wenn der Künstler an den Inhalt des Bildes keine Gedanken verschwenden musste. Vorzug gebührt hierbei natürlich dem Erstwerk, aber Kunst ist die Kopie trotzdem und kann einen Platz im Museum verdienen.
  • Skulpturen können heutzutage per computergesteuerter Fertigung in Perfektion hergestellt werden. Wenn ein identisches Werk von Menschenhand geschaffen wurde, ist es Kunst. Das gleiche Werk maschinell hergestellt, hat seinen Kunstwert jedoch völlig verloren.
Aber das Technische kann doch nicht alles sein?

Aus der Sicht, ob es Kunst ist oder nicht, schon!

Hiermit ist jedoch keine Hierarchie gemeint in der Art: je vollendeter das Werk, desto kunstvoller ist es.

Carl Friedrich Lessing oder Anton von Werner sind zwei meiner Lieblingsmaler. Beide sind bekannt für ihre vollendete Umsetzung. Aber auch John William Waterhouse, der häufig Abschnitte seiner Gemälde weniger fein ausmalt (nicht gerade auf dem unten gezeigten Gemälde, aber dieses ist eines meiner Lieblingsgemälde und ich musste es einfach zeigen...), ist einer meiner Favoriten.

John William Waterhouse - The Lady of Shallot (1888)

Franz von Lenbach legt sein ganzes malerisches Gewicht häufig nur auf die Augen des Dargestellten, alles andere ist verschwommen, angedeutet gemalt. Ist er deshalb ein minderwertiger Künstler? Nein, er ist ein Meister des Pinsels und seine Porträts üben eine Faszination aus, die vielen klassisch vollendeten, jedoch steifen Porträts fehlt.

Franz von Lenbach - Clara Schumann (1878-79)
Pastell

Was ist denn mit dem Inhalt des Bildes, der Intention des Künstlers?

Das Inhaltliche spielt als Kriterium, ob etwas als Kunst betrachtet werden kann, keine Rolle. Will nicht verleugnen, dass subjektiv ein Thema mehr anspricht oder besser umgesetzt ist als das andere. Aber hinsichtlich der Unterscheidung von Kunst und Nichtkunst, und darum geht es in diesem Bericht, spielt dies überhaupt keine Rolle.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts galt es als selbstverständlich, dass ein Kunstwerk eine Bedeutung haben musste. Biblische Geschichten, altertümliche Sagen oder Zeitgeschichte waren die höchst angesehensten Themen.

Gegen dieses inhaltliche Primat ankämpfend gab es mehrere Bewegungen, eine verschiedener als die andere.

So kam die L’art pour l’art oder Ästhetizimusbewegung im 19. Jahrhundert auf (ein typischer Vertreter ist Albert Joseph Moore, dessen Bilder, ohne mythologischen oder sinnschweren 'Ballast', schöne Frauen in antiken Gewändern zeigen), deren Gemälde 'nur' schön wirken sollten. Literarische oder geschichtliche Kenntnisse waren für den vollen Genuss des Bildes nicht von Belang.

Albert Joseph Moore - Midsummer (1887)

Ein ähnliches Ziel, neben anderen, hatte auch der Impressionismus, der den ersten Eindruck(über diese Floskel kann man schön streiten), festhalten wollte. Oder der Realismus, der den grauen Alltag auf den Thron des Darstellbaren gehoben hat.

Ihnen allen war gemein, dass sie das inhaltliche Spektrum erweiterten.

Aber wie weit das Spektrum auch ist, es gibt selbstverständlich immer Richtungen, die einem mehr gefallen als andere. Ich schaue mir mit Begeisterung Historiengemälde der akademischen Maler des 19. Jahrhunderts an. Deren Gemälde sind meist voller Details, interessanter Stellen und lebendiger Personen. So beschreiben Gemälde Anton von Werners geschichtliche Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Einen schnelleren und besseren Einblick und ein Gefühl für diese Zeit kann man kaum gewinnen. Wenn das Ganze auf technisch hohem Niveau umgesetzt ist, ist dies große Kunst und nicht, wie heutzutage behauptet, einfache Zeitgeschichte ohne Kunstwert.

Anton von Werner - Kaiser Friedrich als Kronprinz auf dem Hofball (1878)
Öl auf Leinwand (118 x 95 cm)

Paul Cézanne - Stillleben mit offener Schublade (1877-1879)
Öl auf Leinwand (33 x 41 cm)

Nebenbei bemerkt: Der fehlende Tiefgang der impressionistischen Gemälde führte noch vor Ausbruch des 1. Weltkriegs zu einem Abflauen des Impressionismus-Hype, der in den Jahren zuvor häufig als einzig selig machende Kunstrichtung angesehen wurde. Man war nun der sinnlos sinnlichen Gemälde überdrüssig und wollte wieder bedeutungsvollere Aussagen und Inhalte erblicken. Mein Problem wäre das nicht gewesen, meine Kritik am klassischen Impressionismus ist rein formaler Natur, dass halbgare Studien als fertige Bilder gepriesen werden. Dies gilt häufig für die Dauerbrenner Pissarro, Sisley, Monet und Konsorten,

Alfred Sisley - Die Seine bei Bougival (1876)
Öl auf Leinwand (45 x 61 cm)

aber weniger für die schweren Kaliber des akademischen Impressionismus (Krøyer, Sorolla, Boldini und Co), die jedoch leider bei weitem nicht so bekannt sind.

Giovanni Boldini - Landstrase bei Combes-la-Ville (1873)
Öl auf Leinwand (69 x 101 cm)

Wer an der Oberfläche kratzt, lernt den Inhalt nicht kennen, oder?

Schon wahr. Aber genau dieser Inhalt unterliegt dem Zeitgeist und dem persönlichen Geschmack und hat als Kriterium für Kunst nichts verloren. Der Inhalt ist das breite Spektrum, welches das Interessante und Hochwertige vom weniger Interessanten und Minderwertigen scheidet. ABER. Was mir gefällt, gefällt dir noch lange nicht.
  • Ein Bild Hieronymus Boschs hatte für seine Zeitgenossen eine eindeutige und unmissverständliche Bedeutung. Uns heutigem Betrachter sind diese Allegorien und Symbole oft nicht mehr bekannt, die Fachleute widersprechen sich. Die Bilder Tizians oder Leonardos haben häufig religiös, christlichen Inhalt. Der ist für viele Menschen heutzutage nicht mehr von Bedeutung oder langweilt sie. Trotzdem sind diese Künstler große Meister ihrer Zeit. Und warum? Vor allem wegen ihrer großen technischen Fähigkeiten, ihrem Können.
  • Ein Porträt, welches für den einen Tiefgang besitzt und den Charakter der Person zeigt, ist für den anderen einfach nur ein Gesicht.
  • Ein Landschaftsbild steckt für den einen voller Poesie, für den anderen sind es einfach ein paar Bäume, die ein bisschen mehr Farbe vertragen könnten.
  • Die schlesischen Weber von Carl Wilhelm Hübner sorgten zu seiner Zeit für gesellschaftskritische Furore, heute würde solch eine Darstellung keine soziale Ader mehr pulsieren lassen.

    Carl Wilhelm Hübner: Die schlesischen Weber (1844)
    Öl auf Leinwand - 119 x 158 cm
  • und so weiter und so fort ...
Grenzziehung

Peder Sverin Kroyer - Hipp, Hipp, Hurra (1884-1888)
Öl auf Leinwand (134,5 x165,5 cm)

Mit dieser Art von Kunstbetrachtung wird keine Hierarchie aufgebaut, sondern eine Grenze gezogen. Eine technische Grenze. Und vor dieser Grenze bleiben große Teile des geschätzten Kunstschrotts unserer Zeit stehen, weil ihnen der Einlass aufgrund ihrer dilettantischen Qualität verwehrt wird.

Umberto Boccioni - Die Stadt erhebt sich (1910)
(200 x 301 cm)

Oder, wie ein weiser Türsteher einst sagte:
Du kommst hier ned rein

Samstag, 17. Oktober 2009

Ideenklau und intime Küsse


Keine Angst vor bärtigen Römern


Im deutschsprachigen Internetraum gibt es fast keine Seite, die sich mit den wahren Meistern der Kunst des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Dieses Problem haben englischsprachige Leser nicht. Ein empfehlenswerter Blogs ist sicherlich beardedroman.com. Dort werden häufig wenig bekannte akademische Künstler und ihre Geschichten vorgestellt. Immer in einer Art geschrieben, die den verdienten Respekt vor der Arbeit und Leistung dieser Meister entlockt. Hier ist keine trockene Ansammlung von Fakten zu finden, sondern eine leicht zu lesende, kenntnisreiche Beschreibung der damaligen Zeit.

Etwas für Erbsenzähler

Nur bei einem Bericht, der sich mit Adolph Menzel beschäftigt, habe ich Erbsenzähler was zu korrigieren, da es über die Hauptakteure interessanten Klatsch zu verbreiten gibt.

Ernest Meissonier - Selbstportät

Menzels Werdegang wird treffend beschrieben, nur sein Bezug zu Frankreich wird verzerrt dargestellt. So wird seine Freundschaft mit Ernest Meissonier und die regelmäßigen Besuche der französischen Hauptstadt hervorgehoben. Das wirkt fast so, als ob ein lebenslanger Kontakt zwischen den beiden bestanden hätte. Dies war jedoch nicht der Fall. In Frankreich war Menzel nur dreimal im Rahmen der großen Ausstellungen 1855, 1867 und 1868 in Paris. Und der Freundschaftsbegriff wird in Bezug auf Meissonier auch etwas arg strapaziert. Vielleicht übersetzt ich es auch falsch, und der Autor meinte eher ein freundschaftliches Verhältnis. Wie dem auch sei, lassen wir mal die Fakten sprechen.

Kleine Riesen

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert war besagter Meissonier nicht irgendwer, sondern der bestbezahlte Künstler weltweit. Bewundert von seinen Kollegen fiel sein Name immer dann, wenn Vergleiche im ganz großen Maßstab anstanden.

Sein kleineres Pendant im deutschsprachigen Raum war Adolph Menzel. Und klein ist hier bestimmt das richtige Wort. Denn beide, sowohl Menzel als auch Meissonier, konnten kaum über eine höhere Tischkante blicken. Menzel war nur 1,40 groß und der Franzose maß auch nicht sehr viel mehr und wurde auch mal spöttisch als 'ein rechter Gnom' bezeichnet.


Adolph Menzel - Foto

Beide wurden von Außenstehenden, die sie nicht näher kannten, als grimmig, abweisend und nur mit Vorsicht zu genießende Zeitgenossen beschrieben. Nach persönlichem Kennenlernen sah das dann oft nicht mehr ganz so schlimm aus.

Es gab jedoch auch Unterschiede.

Menzel galt als Meister der Zeichnung, Lithographie, Gouache und was weiß ich nicht alles, jedoch war seine Ölmalerei und Farbgebung teilweise umstritten. Meissonier war ohne Frage der König der kleinformatigen, minutiös detaillierten Ölmalerei.


Ernest Meissonier - Das Portät des Sergeanten (1874)
Öl auf Leinwand (73 x 62 cm)

Meissonier war verheiratet, hatte zwei Töchter (soweit ich mich erinnere, vor kurzem gelesen zu haben) und verbrachte viel Zeit mit Sport. Schwimmen, Fechten und Reiten waren seine Metiers. Alles Dinge, für die der ganz für seine Kunst lebende, unverheiratete Menzel, kein Auge und keine Zeit hatte.
Adolph Menzel - Atelierwand (Studie)

Die beiden kleinen Männer waren jedoch in der Kunstwelt Riesen. Und im Reich der Zwerge können sich Riesen nicht auf Dauer übersehen. So wundert es also nicht, dass sich ihre Wege kreuzten.

Perfektionist

Meissonier war Perfektionist. So wie Menzel. Meissonier war bekannt dafür, dass seine Bilder nicht nur einfach ein Ereignis einer vergangenen Zeit beschreiben, sondern bis ins kleinste Kostümdetail den historischen Gegebenheiten gerecht werden. Für die Schnellschüsse unserer Zeit ist das natürlich überflüssiger pedantischer Schnickschnack, aber für den an Geschichte interessierten Betrachter ist dies ein zusätzlicher Bonus, der den Blick auf die kleinste Nebensächlichkeit locken kann, und das Bild noch bewundernswerter macht.

Ernest Meissonier - Die Kartenspieler (1872)
Öl auf Leinwand (40 x 30,5 cm)

Aus dem Nähkästchen

1862 trafen beiden Maler erstmals aufeinander. Diese und die folgende Begegnung 1867 werden wunderbar von Paul Meyerheim beschrieben, der uns einen Blick hinter die Kulissen der beiden Maler gewährt. Meyerheim war selber ein Meister des Pinsels. Jedoch, aufgrund der Verehrung der größten expressionistischen Dilettanten, welche kaum eine gerade Linie zeichnen können, sind seine liebevollen, unterhaltenden Kunstwerke fast in Vergessenheit geraten. Schade.


Paul Meyerheim - In der Tierbude (1894)

Jedenfalls beschreibt er manch lustige Eigenheit der beiden Künstler. Das Menzel ein Original der speziellen Sorte war, ist mir bekannt. Aber das Meissonier ebenfalls ein schräger Vogel war, wusste ich nicht.

Schlacht mit falschem Ausgang

Meissonier plante 1862 ein Bild über 'Napoleons' Schlacht bei Leipzig. Er reiste deshalb nach Berlin, um sich dort mit alten Uniformen einzudecken. Nachfolgend wollte er dann nach Leipzig reisen, um einer Truppenübung an den Originalschauplätzen beizuwohnen. Nichts Ungewöhnliches für die damalige Zeit, wie man ähnlich zum Beispiel im Bericht zu Anton von Werner nachlesen kann. Das besondere ist jedoch, dass laut Meyerheim der Franzose etwas naiv war, und erst in Berlin erfuhr,
daß die Franzosen die Schlacht bei Leipzig so recht eigentlich nicht gewonnen hätten.
Erste kraftvolle Berührung

Man kann halt nicht alles wissen und solche Nebensächlichkeit erst gar nicht.

Eines wusste Meissonier aber. Nämlich,
daß er, wenn er nicht Meissonier wäre, gerne Menzel sein würde.
Wenn das kein Lob ist, dann weiß ich es nicht. Aber wie sah Menzel das Ganze?
Um es vorwegzunehmen, nicht ganz so euphorisch. Aber er war trotz allem zeitlebens voller Hochachtung vor dem künstlerischen Schaffen des berühmten Franzosen.

So war die erste Begegnung der beiden Künstlerpersönlichkeiten im Rahmen von Meissoniers Besuch 1862 in Berlin recht skurril. Menzel hasste die französische Sprache und beherrschte sie kaum, und so bestand ihre Unterhaltung,
wenn gerade niemand zum Dolmetschen bereit war, gewöhnlich darin, daß einer dem anderen auf den Rücken klopfte.
Dreister Ideenklau

Menzel hatte zu dieser Zeit sein nie vollendetes Bild Friedrich der Große mit seinen Generälen vor der Schlacht bei Leuthen auf der Staffelei. Ein Bild, welches Meissonier voller Bewunderung betrachtet haben soll.

Adolph Menzel - Friedrich der Große mit seinen Generälen vor der Schlacht bei Leuthen (Unvollendet)
Öl auf Leinwand

Und, wie Meyerheim andeutet, nicht nur betrachtet, sondern auch zu eigen gemacht. Denn direkt von Berlin zu Hause angekommen, begann Meissonier mit seinem weltberühmt gewordenen Gemälde, Napoleon auf dem Rückzug 1814, welches vielleicht nicht nur zufällig Parallelen zu Menzels Werk zeigt.

Ernest Meissonier - Napoleon auf dem Rückzug 1814 (1864)

auf der zerstampften und zerfahrenen Schneedecke sieht man in der Ferne fast nur Silhouette gegen den grauen Himmel die Armee vorüberziehen. Vorn stehen, in dicke Mänteln eingehüllt, mit verfrorenen Gesichtern...
Es gab viele Spekulationen, warum Menzel sein Leuthen Bild nie vollendete. Die Erklärung Meyerheims war einfach:
Der wahre Grund aber, weshalb es nicht vollendet wurde, ist wohl der, daß vorzeitig Meissonier alle Pointen dieses Bildes 'nachempfunden' hatte, um sein allerdings schönstes Bild zu malen.
Intime Küsse

Ihre nächste Begegnung im Rahmen der Weltausstellung 1867 war wieder eine nicht ganz gewöhnliche. Rückenklopfen wie bei ihrer ersten Begegnung war Vergangenheit, diesmal stürzte Meissonier, als er den kleinen Adolph sah, auf ihn zu, umarmte ihn heftig und küsste ihn, Achtung, auf die Ohrläppchen. Richtig gelesen, Ohrläppchen. Merkwürdig für uns naive Mitteleuropäer des 21. Jahrhunderts, aber vielleicht normal für die damalige Zeit. Wer weiß...

Adolph Menzel - Der Palastgarten von Prinz Albert (1846)
Öl auf Leinwand

Der Grund für die intime Begrüßung war jedenfalls ein schöner. Denn Meissonier beglückwünschte Menzel für die gerade bekanntgegebene Auszeichnung im Rahmen der großen Preisverkündgung. Jedoch hatte Menzel nichts von alldem im lauten, hektischen Trubel der Veranstaltung mitbekommen.


Adolph Menzel - Friedrich und die Seinen bei Hochkirch (1856)

Ein Orden für sein Hochkirch-Bild, nein, davon wusste er nichts. Mühsame Überzeugungsarbeit Meissoniers war notwendig, um Menzel von seinem Glück zu überzeugen:
denk dir (sagte Menzel), ich bin noch im tiefen Schlaf, da klopft es heftig an meine Tür; ich wache auf, besinne mich, daß ich in Paris bin, nehme mein ganzes Französisch zusammen und frage: qui est la(wer ist da)?
Da antwortet es draußen: Monsieur Meissonier, und ich, im Halbschlaf, erwidere, ce n'est pas ici(er ist nicht hier).
Als mir die Sache klar wurde, stand wirklich Meissonier vor mir, um mir mitzuteilen, daß alles richtig sei, daß er beim Minister gewesen, daß ich wirklich den großen Orden erhalten und daß wir abends bei ihm essen sollten.
Heimliche Differenzen

Ganz so harmonisch, wie man vermutet, war dieser Abend dann doch nicht verlaufen.
So berichtet Meyerheim von einer Begebenheit, in der Menzel das noch unvollendete Napoleonbild begutachtete und nach längerem Betrachten, währenddessen Meissonier ungeduldig die Vorzüge seines eigenen Bildes anpries, Menzel auf Napoleons Arm mit dem Hut verwies und sagte :
"Das bleibt wohl noch nicht so?" Qu'est-ce qu'il a dit(was hat er gesagt) raunte mir Meissonier zu; ich versuchte, die Worte in milder Form zu übersetzen.
Das Ende der schwierigen Unterhaltung war, daß Menzel auf einem Blättchen Papier hinzeichnete, wie der Arm mit dem Hut sein müsse, und auch noch mit ein paar
Strichen den Kaiser hinzufügte. Von dieser Zeichnung war Meissonier ganz begeistert.
In seinem anderen Atelier hatte Meissonier ein kleineres Bild auf der Palette und nach einigem sinnieren schlug Menzel eine Änderung vor, die der Franzose direkt, in Anwesenheit seiner Schwester und des ebenfalls eingeladenen Malers Ricard, umsetze. Und genau diese Szene hatte Menzel einige Jahre später in einem kleinen Ölbild festgehalten, welches nachfolgend abgebildet ist.


Adolph Menzel - Meissonier in seinem Studio in Poissy (1869)
Öl auf Leinwand (21 x 29 cm)

Das war es aber dann auch mit den Liebeswürdigkeiten. Andeutend, aber nicht auf Details eingehend, schreibt Meyerheim:
Der weitere Verlauf des Tages war weniger amüsant. Viele gute Haare wurden an den berühmten Zeitgenossen nicht gelassen.
Letzte Begegnung

Ein letztes Mal trafen sie sich im Rahmen von Menzels Besuch der großen Pariser Ausstellung 1868. Bei dieser Gelegenheit erhielt er als Geschenk von Meissonier eine Photographie von dem Gemälde "Mann am Fenster" (das nachstehende Bild ist wohl gemeint), welches einen ehrenvollen Platz an Menzels Atelierwand fand.

Ernest Meissonier - Mann am Fenster

Kriegsfolgen

Seit Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 vermied Meissonier jeden Kontakt mit deutschen Künstlern, und so kam keine weitere Begegnung dieser beiden großen Maler zustande. Der Stachel, den die deutschen Eroberer in Frankreich hinterlassen hatten, saß bei Meissonier zu tief:
Kein Deutscher hat seit dem Krieg seinen Fuß in mein Haus gesetzt und wird es künftig tun.
Ernest Meissonier - Die Belagerung von Paris (Studie)

Ordensreiter und Spachtelfink

Der Respekt war weiterhin vorhanden, aber ein kleiner Seitenhieb klingt im nachfolgenden kräftig mit.


Ernest Meissonier - Die Arthusage

Es war Menzel  eine besondere Freude, dass er einen höheren französischen Orden als Meissonier besaß. Und von Meissonier stammt die kritische Prophezeiung über den Wert Menzels grobspachteliger, impressionistischer Ölgemälde:
Meine Herren, warten Sie es nur ruhig ab, ich glaube, von uns allen hier wird Menzel einmal der einzige sein, der mit seiner abscheulichen Ölmalerei Recht behält.
Man dankt!

Adolph Menzel - Bildnis einer Dame (evtl. Friederike Arnold)

Wirkliche Freunde waren die beiden Maler nie, aber die Kunstgeschichte wäre ohne ihre Begegnung um einige Anekdoten ärmer.